Raw – Filmkritik

Raw Filmkritik

Julia Ducournaus „Raw“ ist eine Charakterstudie, die mit einem Tabu Thema bricht. Mehr dazu in der heutigen Filmkritik.

Ein Beitrag von: Riley Dieu Armstark

Worum geht es in „Raw“?

„Raw“ ist ein französisch-belgischer Horrorfilm aus dem Jahr 2016, geschrieben und inszeniert von Julia Ducournau. Der Film folgt der Geschichte von Justine (gespielt von Garance Marillier), einer jungen Frau, die neu an der Veterinärschule der Universität eintritt, in der auch ihre ältere Schwester Alexia (Ella Rumpf) studiert.

Justine stammt aus einer streng vegetarischen Familie und hat noch nie Fleisch gegessen. Doch als sie an der Veterinär Universität gezwungen wird, an einem Einführungsritual teilzunehmen, bei dem die Neulinge rohes Fleisch essen müssen, entwickelt sie unerwartet einen intensiven Verlangen nach Fleisch. Dieses Verlangen wird bald zu einer Besessenheit und Justine beginnt, rohes Fleisch zu essen, was zu unvorhersehbaren Folgen führt.

Während Justine versucht, ihr neues Verlangen zu kontrollieren, wird sie auch mit anderen Herausforderungen konfrontiert, darunter die harte Ausbildung und die Beziehung zu ihrer Schwester Alexia. Die Beziehung zwischen den Schwestern wird komplizierter, als Justine entdeckt, dass Alexia auch ihre eigenen dunklen Geheimnisse hat.

„Raw“ holt das Publikum aus der Komfortzone

Auf dem Bild ist eine Gruppe junger Menschen, die mit roter Farbe bedeckt sind. Im Profil im Vordergrund ist eine junge Frau mit viel roter Farbe im Gesicht
Auf dem Bild ist eine junge Frau zu sehen, die auf einer Straße steht und aufgewühlt ist. Im Hintergrund ist ein gelbes Auto an einen Baum gefahren. Eine Person mit Blut verschmiertem Mund steht an der Beifahrerseite, beidem die Tür offen steht
Raw: Auf dem Bild ist eine junge Frau, die aus dem Kühlschrank eine Packung rohes Fleisch geholt hat und genüsslich an einem Stück davon riecht
Raw: Das Bild zeigt eine junge Frau, die mit roter Farbe bedeckt ist und von einer anderen Person etwas in den Mund geschoben bekommt
Das Bild zeigt eine junge Frau, die aus der Nase blutet

Auch interessant: The Acolyte Folge 4 – Tag

Zugegeben dieses Genre finde ich äußerst interessant, aber ist auch richtig schwer zu ertragen für mich. Meine Schmerzgrenze ist inzwischen enorm niedrig und mir so etwas anzusehen oder gar vorzustellen, ist dann schon eine Herausforderung. „Raw“ hat mich allerdings schon länger interessiert, da mir auch „Titane“ von Julia Ducournau gefiel und ich ihre unkonventionelle Art mag, an Themen heranzugehen.

So ist „Raw“ ebenso tiefgreifender, als es erst den Anschein hat. Den Film als Splatter oder gar Horror wahrzunehmen ist nicht unbedingt falsch, aber auch nicht wirklich richtig. Denn „Raw“ ist viel mehr als was er scheint. Julia Ducournau war es vor allem wichtig, das Publikum aus der Komfortzone zu locken. Angefangen bei einer weiblichen Hauptfigur, die während ihrer sexuellen Entwicklung zum Kannibalismus findet. Frauen werden oft als zart und schön in Filmen dargestellt. Es gilt oft als außergewöhnlich, wenn diese einmal eine andere, mörderische oder brutale Richtung einschlagen. Ducournau wollte mit diesem Bild aufräumen und zeichnet einen Charakter der einerseits zart, intelligent und bedacht ist und auf der anderen Seite diesen Urtrieb eines Menschen ausfüllt. Tief in unseren Inneren sind wir doch Tiere. Diese Aspekte kommen oft in Thrillern und Psychothrillern zum Vorschein.
Dabei bleibt Kannibalismus oft ein Tabu Thema. Oftmals wird dies sogar nur auf unzivilisiertere Völker projiziert wie beispielsweise in „The Green Inferno„. Hannibal Lecter machte das Thema 1988 Salonfähig. Thomas Harris schrieb einen intelligenten Protagonisten, der gerne Menschenfleisch verspeist und in der Gesellschaft anerkannt und hoch angesehen ist. Dass Kannibalismus real ist, ist nicht neu. Das beweisen viele, reale Kriminalfälle und der im Jahr 2022 erschienene Film „Fresh“ deckt sogar auf, dass reiche Personen für Menschenfleisch eine Menge Geld zahlen. Das unangenehme Thema zeigt uns in seiner Ganzheit, welche beängstigende Aspekte in uns Menschen stecken.

Die Akzeptanz von Andersartigkeit

Raw: Auf dem Bild ist ein junges Mädchen zu sehen, dass im roten Licht steht
Auf dem Bild ist eine Gruppe Menschen mit weißen Arztkitteln und mit roter Farbe beschmiert
Raw: Auf dem Bild ist ein junges Mädchen zu sehne
Das Bild zeigt eine junge rau mit einer Bisswunde im Gesicht
Raw: Auf dem Bild ist eine Gruppe junger Menschen in weißen Arztkitteln, die mit roter Farbe bedeckt sind

Auch interessant: Lady Bird – Filmkritik

Der Wunsch den Regisseurin Julia Ducournau hegte, Justine (großartig gespielt von Garance Marillier) in ihrer Andersartigkeit menschlich darzustellen ist gelungen. Als Inspiration diente hierfür die Figur Joseph Merrick aus dem Film „Der Elefantenmensch„. Ein Mann der durch enorme Tumore in Gesicht und anderen Körperstellen entstellt ist und deswegen von der Gesellschaft ausgegrenzt wird. Dass Merrick aber ein sehr intelligenter Mann ist, erfährt kaum jemand, denn niemand will hinter die Fassade blicken.

So ist Justine ebenso eine intelligente, junge Frau. Als Überfliegerin kommt sie an die Veterinär Akademie und wird von Lehrer:innen auch gelobt.

„Raw“: Ein modernes ‚Kain & Abel‘

Neben der persönlichen Entwicklung der Protagonistin, gesellt sich eine Geschwister-Geschichte wie Kain und Abel, die Ducournau ebenso als Vorbild für das Drehbuch diente. Ein weiterer Aspekt dieser Charakterstudie, wie Menschen selbst ihrem eigen Fleisch und Blut ein gewisses Maß an Sadismus zumuten. Und Gleichzeitig aber auch eine innere Zerrissenheit in der Geschwister-Dynamik symbolisiert, denn Alexia (Ella Rumpf) scheint bereits mehr zu wissen, offenbart dies ihrer Schwester allerdings nicht oder zumindest nicht in Gänze. Denn alles in allem sind die beiden doch noch Heranwachsende, die ihre Erfahrungen sammeln und mit der Pubertät umgehen müssen.

Somit gelingt es Julia Ducournau mit „Raw“ nicht nur einen Kannibalen Horrorfilm zu präsentieren, sondern auch eine gelungene Analyse der menschlichen Psyche. Besondres im Zusammenspiel mit Familiendynamiken und Persönlichkeitsentwicklung.

Die visuelle Intensität fordert das Publikum heraus

Was der Film „Raw“ allerdings noch zu bieten hat, ist die visuelle Ausarbeitung. Ruben Impens‘ Kameraarbeit ist intensiv und gleichzeitig bedacht. Seine Kameraarbeit in „Raw“ betont stark die psychische und körperliche Entwicklung Justins. Dies wird vor allem in den Nahaufnahmen deutlich, im spielenden Wechsel mit der subjektiven Sichtweise von Justine. Diese Technik lässt das Publikum Justins Emotionen besser verstehen und ihre Erfahrungen beinahe selbst erleben. Die Farbe Rot dominiert das Farbschema des Films deutlich und unterstreicht die emotionale Intensität der Thematik.

Jim Williams‘ Soundtrack trägt ebenso zu einem emotionalen Filmerlebnis bei. Poppigen Rap-Nummern verstärken das Gefühl innerer Freiheit der Jugend. Das Partygefühl auf dem Campus und das genießen des Lebens. Während auf der anderen Seite unangenehme Orgelklänge der Audienz einen Schauder über den Rücken laufen lassen. Sobald das Tempo erhöht wird, finden sich zusehende Personen wieder in der emotionalen Spirale der Protagonistin und eine innere Unruhe, sowie Angst macht sich breit.

So spielt Jim Williams gekonnt mit den Gefühlen der Zuschauer:innen und lässt sie die Szenen intensiver erleben.

Nichts für den schwachen Magen

Trotz der visuellen Fantastik und der gelungen tiefenpsychologischen Charakterstudie, sowie der schauspielerischen Glanzleistungen, hat „Raw“ auch eine Schwäche. Das Pacing ist gut und für den Film perfekt konzipiert, allerdings lässt der Spannungsbogen im Mittelteil etwas Luft ab. Hier heißt es durchhalten, um das fantastische Ende zu erleben. „Raw“ ist auch nicht zwingend für Menschen mit schwachem Magen gemacht, einige Szenen sind sehr pikant und vor allem auch unangenehm lang. Sicherlich gewollt, da der Film das Publikum, wie oben schon erwähnt, aus der Komfortzone holen soll.

Fazit zu „Raw“

Julia Ducournaus „Raw“ ist eine beeindruckende Charakterstudie, die es wagt, mit Tabuthemen zu brechen und das Publikum aus der Komfortzone zu locken. Der Film geht weit über das hinaus, was man von einem klassischen Horror- oder Splatterfilm erwartet und bietet eine tiefgründige Analyse der menschlichen Psyche und der Dynamik zwischen Geschwistern. Besonders hervorzuheben ist die visuelle Intensität des Films. Die Kameraarbeit von Ruben Impens und der Soundtrack von Jim Williams tragen maßgeblich zur emotionalen Wirkung des Films bei.

„Raw“ ist allerdings nicht für Zartbesaitete geeignet. Die unerschrockene Darstellung von Kannibalismus und die expliziten Szenen fordern das Publikum heraus und sind manchmal schwer zu ertragen. Julia Ducournau gelingt mit „Raw“ nicht nur einen provokanten Horrorfilm zu schaffen, sondern auch eine vielschichtige und tiefgründige Geschichte über Erwachsenwerden und die dunklen Seiten der menschlichen Natur zu erzählen. Chapeau!

Hat euch „Raw“ gefallen?


TRAILER: ©Universal Pictures

Raw Filmkritik

Unterstützt uns!

Dir gefällt was wir machen? Dann supporte uns! Kommentiere, teile und like unsere Beiträge auch in Social Media oder spendiere uns einen KAFFEE ☕. Mit deiner Unterstützung sorgst du dafür, dass die Seite weiter betrieben werden kann.

Der Beitrag enthält Affiliate Links von Amazon. Bei einem Kauf ändert sich für dich nichts, du unterstützt lediglich dadurch unsere Arbeit. Außerdem Links zu den Streamingdiensten Netflix und Disney+. Auch hier ändert sich nichts für dich bei einem Abo-Abschluss und es zwingt dich niemand dazu. Dafür bekommen wir auch nichts. Dies dient nur dazu, dass du gleich Zugriff auf den besprochenen Film hast, ohne noch einmal extra auf die Streamingseite gehen zu müssen.  

RILEY – Chefredakteur:in
Ich blogge seit dem 14. Dezember 2014 auf passion-of-arts.de. Schon in meiner Jugend schrieb ich viele Gedichte und Kurzgeschichten. Seit ca. 14 Jahren widme ich mich professionell Filmrezensionen und war Gastschreiber:in bei der Filmblogseite „We eat Movies“. Außerdem verfasste ich einige Artikel für das 35 MM Retro-Filmmagazin. Ich sterbe für Musik und gehe liebend gerne ins Kino, außer in 3D. TV ist überbewertet, ich gucke lieber DVD, Streaming oder Bluray. Meine Lieblingsfilme sind unter anderem „Titanic“, „Herr der Ringe“ und „Back to the Future“.

Passion of Arts

 

Pressestimmen zu „Raw“:

Bastian G. von Filmfutter
Vital, hungrig und erfrischend feminin – wer von diesem phänomenalen Erstling zuletzt gebissen wird, hat verloren!

Michael Hahn (Rick Deckard) von Horrormagazin.de
Unausgegorenes Teenager-Kannibalen-Drama, das nicht ohne Faszination ist, aber außer einer guten Hauptdarstellerin nicht viel zu bieten hat.

Michael Kienzl auf Critic.de
Coming of Veggie, oder: Sind Vegetarier die besseren Kannibalen? In ihrem Debütfilm erzählt Julia Ducournau von einem bedrohlichen sexuellen Erwachen.

Das sagt die Community:

flis04 auf Letterboxd
Insgesamt ist „Raw“ nun vor allem ein aussergewöhnlicher Film und ein noch aussergewöhnlicheres Regiedebüt, welches mutige neue Wege geht, stellenweise aber auch an der eigenen Metapher scheitert. Inszenatorisch bleibt „Raw“ dennoch ein voller Erfolg. Ein seltsames Gemisch aus blutiger Mahlzeit und freudiger Musik, welches den Kern des Coming-of-Age Dramas nie misst und einen bleibenden Eindruck als schwer verdauliches Mahl hinterlässt.

Martin Kostenzer auf Letterboxd
So hat mir Raw erneut das bewiesen, was ich schon lange vermutet habe. Je subtiler der Coming of Age-Aspekt eingebaut und je mehr er mit anderen Themen und Genres kombiniert wird, umso besser gefällt er mir und umso mehr kann er mich (natürlich bis auf ein paar Ausnahmen) überzeugen.

Rick auf Letterboxd
Trotzdem schafft „Raw“ es, bis zum Schluss immer spannender zu werden und den größten Schock bis zum Finale zurückzuhalten. Und am Ende saß ich dann sprachlos da. Wow!

Pressematerial: Raw | 2016 ©Universal Pictures

Das könnte dich auch interessieren

4 Kommentare

  1. Tolle Analyse eines nicht einfachen Films. Wie „Titane“ bietet der Film zum Teil schwer verträgliche Szenen, jedoch nicht ohne Faszination, weil diese eben nicht reiner Selbstzweck sind, sondern in einer Bildsprache eingebettet sind mit komplexer Symbolik. Julia Ducournau widmet sich in „Raw“ wie Du es bereits schön herausgearbeitet hast etwas sehr dunkles, ursprünglich, menschliches. Indem Fall dem Kannibalismus. Ich denke was den Film dann für viele seltsam oder gar unerträglich erscheinen lässt, sind nicht nur die expliziten und direkt gefilmten Gewaltszenen. Sondern, dass sie diese Seite der Menschlichkeit, der Rohheit, nicht als etwas maskulines wie in den meisten Filmen, sondern als etwas feminines darstellt. Das gleiche gilt auch für „Titane“.
    Ich gebe Dir auch Recht, der Film hat gerade in der Mitte seine Längen die man überstehen muss, wie bei Titane. Aber das Ende fügt alles zusammen und erfüllt es mit Sinn. Julia Ducournau ist eine interessante und aufregende Regisseurin mit versiertem Handwerk und ich bin schon sehr gespannt auf ihren dritten Langfilm. Auch wenn er dann eine Zeitlang auf meiner Whatchlist schlummern wird. Weil für ihre Filme muss man echt gerade in der Stimmung sein und sich sehr bewusst sein worauf man sich einlässt.

    1. Vielen Dank @klaathu

      Das stimmt. Julia Ducournau war das wohl auch wichtig, dass es nicht maskulin ist und daher unangenehmer für das Publikum. Da Frauen immer als zart und brav hingestellt werden. Ebenso wie sie immer in Schubladen gesteckt werden. Aber hier wird man aus der Komfortzone gelockt und es wird mit Mustern und Klischees gebrochen.

      „Titane“ war ähnlich interessant für mich. Hätte danach noch mehr über den Film diskutiert, aber mein Zielpublikum war da leider nicht kompetent genug für.

      Da stimme ich dir zu. Ich denke wenn ich nicht in der richtigen Stimmung bin, kann ich dem Film dann nichts abgewinnen. Aber ich schätze die Arbeit von Julia Ducournau sehr. Eine wirklich interessante Filmemacherin. Bin auch gespannt auf den nächsten Film. Werde sie auf jeden Fall im Auge behalten.

      1. @neon_dreamer

        Ich verstehe sehr gut was Du meinst. Es ist nicht immer leicht Leute zu finden mit denen man dann gut diskutieren kann. Viele sagen sie hätten Ahnung von Filmen, aber ist dann oft nicht so. Um fair zu bleiben, „Titane“ ist auch nochmal anspruchsvoller als „Raw“. Viele Bezüge zur griechischen Mythologie, der Titel weist schon darauf hin. Viel Symbolik und vor allem auch eine komplexere Bildsprache. Aber auch wieder ein sehr femininer Blick der einen aus der Komfortzone holt.
        Ich werde die Regisseurin auch im Auge behalten. Generell finde ich es gerade total spannend und schön wie viele talentierte Regisseurinnen momentan ins Rampenlicht rücken die einfach auch mal eine andere Perspektive und Herangehensweise bieten. Früher waren es gefühlt ja nur Kathryn Bigelow und Sofia Coppola. Mittlerweile gibt es ja eine Reihe von Regisseurinnen mit tollen Filmen, nicht nur Greta Gerwig. Auch wenn das Regiehandwerk immer noch sehr männlich geprägt ist, sieht man zumindest schonmal eine Entwicklung.

        1. @klaathu

          Ja. Inzwischen habe ich da mehr Glück.
          Vielleicht gönne ich „Titane“ mal einen Rewatch. Aber es gibt derzeit auch so viel anderes, interessantes zu sehen.

          Ich finde es auch nice, dass mehr und mehr Regisseurinnen in den Vordergrund rücken. Bin da gerade auch mehr und mehr am entdecken.

Schreibe einen Kommentar

Technische Umsetzung durch die Internetagentur SEO Lausitz. Professionelles Webdesign in der Oberlausitz für Löbau, Bautzen, Görlitz und Zittau!