In meinem Artikel “Im Westen nichts Neues: Entmenschlichung im industrialisierten Krieg” gehe ich näher auf die Thematik ein, was Krieg mit uns Menschen macht und wie er uns entmenschlicht. Anhand des Beispiels „Im Westen nichts Neues“, das Werk das schon viele Verfilmungen erhalten hatte und als kinematografische Jahrhundertwerk gilt.
VOn den Aufsteigern des BÜRGERTURMS ZU GEFALLENEN IM SCHÜTZENGRABEN
Musste man sich in der letzten Zeit die Frage stellen, ob es „Im Netflix-Stream nichts Neues?“ gibt, wagt sich ausgerechnet der Streaminganbieter, welcher Jahre lang gehyped wurde und nun bei vielen Kunden aus unterschiedlichen Gründen in Ungnade gefallen war, an die Verfilmung des Klassikers des Anti-Kriegsfilms „Im Westen nichts Neues“ und schickt das Werk sogar ins Oscarrennen 2022 für Deutschland. 9 Nominierungen für die Oscars wurden bekanntgegeben, darunter erstmals eine Nominierung eines deutschen Beitrags für den besten Film.
Die Erstverfilmung, des literarischen Stoffes von Erich Maria Remarque, erregte im Jahre 1929 Aufsehen. Man durchbrach die Weise, wie bisher Filme gemacht wurden. Dies geschah in technischer, wie auch weltanschaulicher Sicht, nämlich gegen ein heroisches Ideal und romantisierendes Heile-Welt Paradigma.
Besonders in Deutschland hat man längere Filmszenen zensiert und unter den Nazis verballhornt und verfemt, bis ein Verbot der Aufführung erfolgte. Aber auch in den USA hat der Film einige Zensurschnitte erleiden müssen. In seiner vollständigen Version darf das kinematografische Jahrhundertwerk auch noch heute als Meilenstein der Filmgeschichte bezeichnet werden. Davor als auch danach hat kein sog. Anti-Kriegsfilm die Angst und Traumata der Soldaten an vorderster Front so ungeschönt dargestellt. Hier kauern sie in den Schützengräben und Bombenkratern wimmernd, weinend und kreischend in der Deckung. Im Gros der anderen Filme ertragen sie meist mit tapferer Mine ihr Schicksal und wachsen über sich hinaus.
So können die Soldaten in jedem anderen sog. Anti-Kriegsfilm trotzdem zu Helden werden, was für den Zuschauer sicherlich wohlgefällig ist. Doch bei „Im Westen nichts neues“ existieren die Helden genauso wenig, wie die Anti-Helden. Sie sind nichts weiteres als Futter für die Kanonen.
Im Vergleich, zum dem mit dem Oscar ausgezeichneten Klassiker von 1930, könnte also die Herausforderung für die Neuverfilmung größer nicht sein.
Warum braucht es Neuverfilmungen?
Viele Puristen liefen bereits bei Ankündigung der Neuverfilmung Sturm und beklagten sofort, dass es der Neuverfilmung generell nicht bedürfe. Man können das Original nicht übertreffen. Werke auf einen solch hohen Sockel zu stellen, das erscheint mir dogmatisch, gehören doch Neuinszenierungen bei Bühnenstücken traditionell zur Theaterkultur. Neuinszenierungen ermöglichen es Aspekte der Erzählung anders zu betonen. Neue Metaebenen und Deutungsmöglichkeiten entstehen. Aber natürlich auch eine andere eventuell bessere Performanz könnte das Ergebnis sein. Sowohl andere Schauspieler, Kulissen, als auch eine neue Dramaturgie können auf den Zuschauer eine ganz andere Wirkung entfalten. Zeitgemäß ist das Schauspiel im Klassiker auf keinen Fall. An das Schauspiel hat man doch früher eher idealistische statt realistische Erwartungen. Doch das ist ein ganz anderes Thema.
Natürlich werden Remakes leider auch inflationär produziert, was nichts daran ändern sollte, dass jede Neuverfilmung eine eigenständige Wertung verdient hat. Nun ist die Neuverfilmung am 28.10.2022 auf Netflix erschienen, war der Film einen Monat zuvor ausgewählten Kinos bereitgestellt worden.
Heroische Reden versus Kriegsmaschinerie
Die Rezeption der ersten Kritiken zeigt einen häufig geäußerten Einwand. Im Gegensatz zu Roman und Erstverfilmung habe man die Verblendung der Jugend, durch Eltern und Lehrer, nicht mit entsprechender Aufmerksamkeit behandelt. Tatsächlich sieht man in der Originalverfilmung, zusätzlich zur patriotischen Kriegsrede des Lehrers, die Eltern Pauls, eine besorgte Mutter und einen stolzen Vater. Jedoch handelt es sich hier nur um eine sehr kurze Sequenz, die weniger als 15 Sekunden dauert. Dass die Eltern an der patriotischen Verblendung Teil hatten ist zwar wichtig, aber die Auslassung ist kein Verlust. Dadurch gelingt hier etwas neues durchaus Pointierteres, nämlich eine bedrohliche und verstörende Atmosphäre. Diese zieht sich wie einer roter Faden, schon bei der ersten Einstellung auf dem Schlachtfeld, durch die ganze Erzählung.
An diesem roten Faden angehängt, ist auch die heroische Rede des Schulleiters. Sie hat zum einen die Rede des Lehrers aus der Erstverfilmung adäquat ersetzt. Zum anderen wirkt die neue Rede als Antithese zu den parallel auf dem Schlachtfeld fallenden Soldaten. Die jungen Männer hatten, in Anbetracht der ihnen entgegengestellten Tötungsmaschinerie, keine Chance auf ein Überleben.
Während die heroische Rede auf fruchtbaren Boden fällt, wird einem als Zuschauer in der Parallelhandlung die Wahrheit vor Augen geführt. Kaum gefallen, kommt das wiederverwertbare Material zurück in den Kreislauf. Damit werden dann die nächsten ausgestattet, wie etwas Paul Bäumer und seine Kameraden. Die folgenden Szenenausschnitte sind Teil eines sich ständig wiederholenden Wirtschaftskreislaufes. Wie eine beschauliche Dokumentation berichtet sie über die arbeitsteiligen Tätigkeiten bei der Fertigung eines Recycling-Produktes.
Gerade tot genug, werden die Gefallen entkleidet, um von emsigen Arbeitern in einem Massengrab zugeschüttet zu werden. Die Kleidung und sonstiges brauchbares Material wird der Wiederverwertung zugeführt. Zuerst wird alles auf LKWs verladen und zur Wäscherei transportiert. Nach dem Waschen werden sie in der Näherei ausgebessert. Schließlich landen sie wieder im Regal, bereit zur Ausgabe an den nächsten Helden in Spé. Paul entdeckt das Namensschild seines Vorgängers im Kragen der Uniform. Er ist nichtsahnend darüber, dass darin bloß ein Tag zuvor ein Kamerad gestorben ist.
So erschütternd, wie diese blutgetränkte Szenen, ist jene von den Besitzern wechselnder Lederstiefeln in der Erstverfilmung nicht. Klar ist der Zweck der Gleich. Aber in der Neuverfilmung überblickt der Zuschauer den ganzen gnadenlosen industrialisierten Kreislauf, eines menschenfressenden Systems. Er erkennt, dass in dieser Uniform vielleicht nicht nur ein einziger Mensch gestorben ist. Paul und seine Kameraden könnten auch nicht die Letzten gewesen sein. Diese Enthüllung wird zur drastisch erfahrbaren Parabel der industriellen Auslöschung von Menschenleben im Krieg.
Im direkten Vergleich, mit dem Klassiker der Filmgeschichte von 1930, schafft es die Neuverfilmung die Erzählung sowohl passend um einige Handlungsstränge im Sinne Remarques, als auch im Verständnis der heutigen Geschichtsreflexion zu ergänzen. Dabei berücksichtigt die Neuinszenierung moderne Ansprüche, d. h. Vertonung, als auch Kameraarbeit, Kulissen und Schauspiel werden Teil einer Inszenierung, die eine herausragende realistische und bedrückende Atmosphäre erschaffen kann. „Im Westen nichts neues“ ist eine Tortur, für die man sich entscheiden kann sie durchzustehen, aus Respekt vor den gefallenen Soldaten, jungen Männern, die mit Eifer und Stolz eine Wahl getroffen haben, deren Konsequenzen ihnen die Kriegstreiber vorenthalten haben. Wenn es nur einen Grund gäbe diesen Gang durch die Hölle mitzuerleben, dann ist jener, dass weder Besuche auf Ehrenfriedhöfen, noch das Studium von Geschichtsbüchern diese Erfahrung so immersiv transportieren können, wie dieses filmische bzw. literarische Mahnmal für den unbekannten Gefallenen.
In der genaueren Betrachtung der Neuverfilmung ist den Drehbuchautoren mit dieser fortwährenden Antithetik und der dazugehörigen eindringlichen Inszenierung ein stilistischer Kunstgriff gelungen.
Der Aufstieg des Untertans
Ein schwerer Verlust scheint hingegen die Auslassung der Figur des Postboten/Unteroffiziers Himmelstoß. Mit Unteroffizier Himmelstoß fehlt nicht nur die militärische Ausbildung der jungen Rekruten, sondern auch eine wichtige Figur. Himmelstoß transportiert mit seiner Charakteristik sicherlich eine der moralischen wichtigsten Einsichten aus Remarques Programmatik. Seine Figur ist der anfangs von Paul und seinen Kameraden respektlos behandelte Postbote. In der zivilen Gesellschaft führt er ein eher unbeachtetes Dasein führt.
Mit dem Beginn der Mobilmachung schwingt Himmelstoß plötzlich große patriotische und heroische Reden. Er ist der stereotypisierte Kleinbürger, der durch das Kollektiv der großen Nation über sich hinauswächst. Nicht ohne literarischen Kontext zu anderen Werken seiner Zeit, ist diese Figur von Remarque erschaffen worden. Sie lässt deutlich einen Bezug zu Heinrich Manns „Der Untertan“ erkennen. Viel besser kann man Heinrich Manns Charakterisierung eines wilhelminischen Untertanen nicht auf eine Figur übertragen. Als der Postbote Himmelstoß zum Unteroffizier aufsteigt, kann man beobachten, was passiert, wenn vorher abgehängte Menschen Macht über andere erlangen. So heißt es im Roman Remarques kommentierend „Seine Macht ist ihm zu Kopf gestiegen“. Als linientreuer Soldat zeigt Himmelstoß sich unterwürfig und gehorsam gegenüber den höheren Rängen. Aber kaum befördert tritt er als tyrannisch-sadistischer Schleifer auf, der Untergebenen das Leben zur Hölle macht. Damit ist auch der Untertan nach Heinrich Mann charakterisiert.
Nach oben buckeln, nach unten treten – das ist die Lebensdevise des Untertans.
– Heinrich Mann
Mit seinem Roman „Der Untertan“ setzte Heinrich Mann einen Meilenstein der Literaturgeschichte. Vom Elternhaus über die Schule bis hin zum Militär stellt er das autoritäre Erziehungssystem im Kaiserreich bloß. Das ist insofern wichtig, weil die Charakterisierung der Figur des Himmelstoß‘ diese Idee fortführt. Darüber hinaus ermöglich sie sogar noch weitere Einsichten. Gleichzeitig ist er auch ein Exemplar des sog. „autoritären Charakters“, dessen Konzept wesentlich auf den Psychoanalytiker Erich Fromm und den Sozialphilosophen Max Horkheimer zurückgeht.
Das Phänomen des autoritären Charakters hat bis heute nicht an Aktualität verloren. Es wird innerhalb der Psychologie unter dem Begriff „autoritäre Persönlichkeit“ im Rahmen der Autoritarismusforschung untersucht. Die autoritäre Persönlichkeit, als Sammlung von Eigenschaften und Verhalten einer Person, spielt eine bedeutende Rolle für die Entstehung von rechtsextremistischen Strömungen. Die Ursachen für die Prägung eines Menschen zu einer autoritären Persönlichkeit sind in einer autoritären bzw. antiautoritären Erziehung zu finden. Diese Erkenntnis ist den empirischen Experimenten zur Führungs- und Erziehungsstilforschung Kurt Lewins zu verdanken. Es handelt sich um Einsichten, welche die Bildung- und Erziehung, sowie die Berufswelt bis heute nachhaltig verändern.
Zurück aber zur Figur des Unteroffizier Himmelstoß. Nach der Grundausbildung begegnen Paul und seine Kameraden – oder das was davon übrig ist – Unteroffizier Himmelstoß im Kampfeinsatz wieder. Doch hier ist der einst stolze Unteroffizier Himmelstoß nur noch ein wimmerndes Häufchen Elend. Er hat sich im Matsch der Schützengräben verkrochen. Dort hält er sich die zitternden Hände vor seine Augen. Das ist der Kontrast zu seinen vorangegangenen heroischen Reden und Handlungen als tyrannischer Ausbilder.
Wenn man ein wenig Literaturkritik am Original von Remarque üben darf, dann wäre es in dem folgenden Punkt. Remarque kommentiert so einiges. Mit welcher Respektlosigkeit Himmelstoß von Paul und seinen Kameraden in der Vergangenheit behandelt wird, das wird nicht kommentiert. Das ist zwar keine Legitimation für die Rache des Postboten an seinen Mobbern, aber es zeigt welche Konsequenzen es hat, wenn schwache Menschen von der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden. Heutzutage lässt es sich global beobachten was abgehängte Menschen am Rande der Gesellschaft imstande sind zu tun. Wenn sie sich nicht extremistischen Strömungen anschließen, verüben sie terroristische Attentate oder begehen Amokläufe. Inwieweit diese Menschen selbst eine Verantwortung dafür tragen, auch wenn sie vom Rest der Gesellschaft abgehängt werden, darf nicht dazu führen, dass man aus seiner Verantwortung entlassen wird, für die Heilung und Teilhabe aller zu sorgen bzw. so dass Menschen erst gar nicht abgehängt werden.
Vielleicht ist die Auslassung der Figur des Unteroffiziers Himmelstoß in der Neuverfilmung sogar die einzige Möglichkeit gewesen dramaturgisch eine weitreichendere Pointe zu setzen. Offenbar gehen wichtige Aspekte der Figur offenbar in der neuen Figur des General Friedrichs auf.
General Friedrich residiert in einem geheizten herrschaftlichen Anwesen wie ein Fürst. Fernab der Front, genießt er allerlei erlesene Speisen der französischen Küche und braucht um sein Leben nicht zu fürchten. Hier haben wir den Kontrast zu den im Matsch und Blut verreckenden Frontsoldaten. Allerdings war Himmelstoß der Repräsentant des kleinen Mannes aus dem Volk, während Generäle in der Regel, in der historischen Tradition der Monarchie, aus höherstehenden adeligen Familien kamen. Friedrich trägt keinen adeligen Namen, weshalb man bei ihm von einem Emporkömmling aus der Bürgerschaft ausgehen kann. Ein paar Jahrzehnte zuvor konnten ausschließlich Adelige in diese Ränge aufsteigen. Damit erfüllt er die selbe Funktion des Aufsteigers, wie bei dem Postboten, der zum Unteroffizier aufsteigt. General Friedrichs Biografie gibt sich aber nur Preis, wenn man die historischen Bedingungen kennt und sie ableitet.
Sozio-kulturelle Hintergrundkenntnise bei den Zuschauern vorauszusetzen ist schon ein mutiger Anspruch. Man muss damit rechnen, dass nicht alles verstanden wird, was es zu verstehen gibt. Aber es ist eben auch nicht belehrend. Am Ende ist es kein Zufall, dass General Friedrich neben einem ähnlichen wilhelminischen Aussehen, auch den sozio-kulturellen Hintergrund mit Himmelstoß teilt.
So ist nicht nur die Synopsis der beiden Konterfeis verblüffend. Friedrich ist ebenso randständig und einsam wie Himmelstoß, denn er hat scheinbar keine Freude, Vertraute oder Familienangehörige. Er ist mit der Armee verheiratet, als das Klischee der preußisch-wilhelminischen Tugendhaftigkeit in persona. Zugleich istder heroische Reden schwingende Patriot durch und durch genauso ein Tyrann wie Himmelstoß. Er ist bereit andere in den Tod zu schicken und vom unbedingten Siegeswillen getrieben. Aber Friedrich bleibt, im Gegensatz zu Himmelstoß, auf Distanz zur realen Gefahr auf dem Schlachtfeld. So entspricht die Figur des Generals, auch wenn sie weder Teil des literarischen Werkes, noch der ursprünglichen Verfilmung ist, immer noch dem Gedanken Remarques, dass diejenigen am meisten für den Krieg seien, die die größte Entfernung zu ihm haben.
Abweichungen gegenüber dem Roman versus Historische Einsichten
General Friedrich leistet mehr als die Figur des Himmelstoß. So steht er außerdem symbolisch für jene Teile der obersten Heeresleitung des Deutschen Kaiserreiches, die fern der Schlachtfelder agierten und nicht realisierten, dass der Krieg nicht mehr gewonnen werden kann. Scheinbar nur durch das Machtwort Hindenburgs kam es zur Annahme der Bedingungen für einen Waffenstillstand. Die Bedingungen wurden von vielen als Demütigung empfunden, was historisch weitreichende Folgen hatte. In Remarques Roman spielen sie keine Rolle. Dass sie jetzt der Neuverfilmung beigefügt wurden ist immens wichtig, weil sie eine der tragenden Säulen der Erkenntnis des ganzen historischen Komplexes aus dem revanchistischen Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland ist. Dazu aber später mehr. Trotz Aushandlung des Waffenstillstands zum 11. November 1918 um 11 Uhr, belebt der fiktive General Friedrich die Kämpfe an der Westfront wieder, um noch einmal Territorium zu gewinnen. Das ist historisch nicht belegbar, lassen sich dafür keine unmittelbaren Beweise finden.
Diese unhistorische Hinzufügung mag eventuell einzig dramaturgischen Zwecken gedient haben. Oder es war die Absicht der Drehbuchautoren eine Verdichtung der Geschehnisse herbeizuführen, um einen Bezug zur „Dolchstoß-Legende“ herzustellen. Von Seiten der Obersten Heeresleitung wähnte man sich „als im Felde unbesiegt“. Infolgedessen lehnte man eine Kapitulation ab, die durch die Politik vermittelt worden war, insbesondere von den Sozialdemokraten. Man bezeichnete diesen Vorgang als Dolchstoß, welcher hinterrücks an den deutschen Soldaten verübt worden sei. Diese einer Verschwörungserzählung ähnelnde Legende über den Verrat am deutschen Volk begründete die Entstehung der berühmten „Dolchstoß-Legende“.
Im Gegensatz zum Roman und den beiden Vorgängerverfilmungen thematisiert die Neuverfilmung durch die Ergänzung dieser Figur des Generals also dankenswerter Weise auch die politischen Entscheidungen, mit dem Fokus auf die Haltung von Teilen der obersten Heeresleitung. Somit werden historische Einsichten eingefügt, die Remarque damals noch nicht gehabt haben kann. Die Konsequenzen des Versailler Vertrags konnten erst nach dem Aufstieg Hitlers und des Dritten Reichs gesehen werden und einer historische Reflexion unterzogen werden.
Puristen beklagen, dass die politische Parallel-Erzählung, um die Verhandlungen des Waffenstillstands und die Dolchstoß-Legende, eine Beifügung darstellte, die in dem Roman nicht existiere. Man kann jedoch davon ausgehen, dass dies auch im Sinne Remarques ist, denn relativiert er Jahrzehnte später, nach dem Zweiten Weltkrieg, angesprochen auf das Fehlen des expliziten Pazifismus-Bekenntnis, seine frühere Aussage, dass man doch annehmen müsse, dass jeder Mensch gegen den Krieg sei, folgendermaßen:
Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.
– Erich Maria Remarques
Der erste Teil der Aussage repräsentiert die jugendliche Naivität Remarques, welche aber auch zynisch anmutet. Es scheint für ihn ohne Frage, dass Krieg per se moralisch verwerflich ist und man Menschen darüber nicht aufklären müsse. Doch der historische Revanchismus hat Deutschland bzw. Frankreich immer wieder scheinbare Legitimationen geliefert. Und immer wieder war das Vom-Zaun-brechen der Kriege eine Entscheidung von Schreibtisch-Tätern, kühlen Strategen am runden Tisch, angetrieben vom Ehrgeiz der Monarchen, welche um ihr Leben selten fürchten mussten.
So ist der Erste Weltkrieg nicht etwa der erste Krieg in Europa mit bedauernswert vielen Todesopfern. Während des 30-jährigen Krieges sind – in der Relation zur Bevölkerungszahl – mehr Menschen gestorben. Und der Erste Weltkrieg war weder der erste noch der letzte Krieg. Der Erste Weltkrieg hat aus der Sicht der Kontrahenten Deutschland und Frankreich eine tausendjährige Tradition. Dabei darf man sich nicht nur die Kriege zwischen den beiden territorialen Nationalstaaten anschauen.
Der letzte Krieg vor dem Ersten Weltkrieg war der Deutsch-Französische Krieg, bei welchem Deutschland die ganze Nation Frankreich nach deren Niederlage gedemütigt hatte, indem es das Deutsche Reich ausgerechnet im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles ausrief. Das war die Revanche für die Niederlage Preußens gegen Napoleon, welcher große Teile des heutigen Westdeutschlands Jahre lang besetzt hielt, jedoch Kultur, Recht und Gesetz nachhaltig positiv beeinflusste, welche Paradoxie der Geschichte. Sicher könnte man noch weiter zurück gehen, aber die lange Geschichte führt wohlmöglich zurück bis in das Frühmittelalter und zu verfeindeten germanischen Stämmen.
Geschichtsmythen, Legenden, Verschwörungstheorien
Der Erste Weltkrieg trägt also einen Namen, welcher erst einmal aus historischer Sicht einen namentlichen Mythos kreiert. Doch ist dieser Krieg tatsächlich auch eine Zäsur mit der Vergangenheit, die das Antlitz des Krieges für immer veränderte. Der Erste Weltkrieg ist der Krieg, bei welchem der Mann-gegen-Mann-Ethos, also das Verständnis eines ehrenhaften, fairen und heldenhaften Kampfes zwischen zwei Menschen mit zunehmender Dauer und Entwicklung endgültig obsolet wird. Von nun an ist es ein Kampf von Mensch gegen Maschine. Dieses industrialisierte Morden von Anfang bis Ende darzustellen hat sich weder die Erstverfilmung, noch die meisten anderen Anti-Kriegsfilmen zu eigen machen können.
Zu den Neuentwicklungen der Kriegstechnik gehört das Maschinengewehr, welches in einer Minute 500 Projektile abfeuert und moderne Artillerie, die ihre pfeifenden Geschosse alle 10 Sekunden hoch in die Lüfte schießt, damit sie präzise am Boden einschlagen und riesige Krater bilden, genauso wie Panzer, die sich um Schützengräben nicht sonderlich kümmerten. Auch kamen zum ersten Mal Flammenwerfer, sowie chemische Waffen wie Gas zum Einsatz, deren Verwendung man 1925 in den Genfer Konventionen schließlich ächtete und verboten hat. Dieser erste moderne Krieg forderte 17 Millionen Todesopfer und konnte nur durch die Kapitulation Deutschlands und der Unterzeichnung des Knebel-Waffenstillstandsvertrags, in einem Bahnwaggon bei Compiègne, beendet werden.
Der nach den Konditionen des Waffenstillstandes ausgehandelte Versailler Vertrag wurde von den meisten Deutschen als demütigendes Diktat empfunden, denn die Reparationen hätte man in 1000 Jahren nicht leisten können. Er wurde de facto, mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, erst in der Rückschau als Fehler angesehen. Der Grund dafür ist, dass die Schwächung Deutschlands zu einem Ungleichgewicht der Hegemonial-Mächte in Europa führt, das den historisch gewachsenen Revanchismus nur noch weiter fütterte, statt eine Balance of Power zwischen den Mächten herzustellen.
Die Nazis, in ihrem Rachegedanken und dem Willen zur Weltherrschaft, bedienten sich an der Dolchstoß-Legende, wie auch an dem unrühmlichen Versailler Vertrag. So gelang es ihnen das Deutsche Volk erneut aufzuhetzen. Die Nazis gelangten eben nicht durch die Dokumentation des sinnlosen Grauens zu jender pazifistischen Erkenntnis, weshalb Friedrich Schillers Einsicht
Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.
– Friedrich Schiller
zur bitteren Gewissheit wird. Uns so macht sich die ganze Welt auf in den Krieg, um das Dritte Reich zu stoppen. Der Pazifismus weicht der politischen Realität, weil ohne Widerstand Freiheit und Leben bedroht sind.
Was kann uns die persönliche Erfahrung Remarques lehren und was nicht?
Die Zeitlosigkeit des Werkes spiegelt sich in seiner pazifistischen Hypothese auch wieder in Fragen aus dem aktuellen Zeitgeschehen, wobei man nun erneut an der Schwelle eines nunmehr Dritten Weltkrieges stehen könnte. Dieses Mal sind die Deutschen nicht die Aggressoren und stehen zusammen mit der Weltgemeinschaft vor der Entscheidung, vor welcher die Alliierten im Zweiten Weltkrieg standen, nämlich ob man dabei zusieht wie ein Land mitten in Europa ein anderes Land mit Panzer-, Artillerie- und Bombenterror überfällt und dabei zivile Opfer ins Visier nimmt. Man ist sich heute in der Geschichtswissenschaft ziemlich einig darüber, dass alle an diesem Ersten Weltkrieg beteiligten Nationen diesen Krieg wollten. Man wartete nur auf einen Anlass, so dass es wohl einen Initiator geben mag, dieser aber nur auch ein Glied in der multikausalen Verkettung von eskalierenden Umständen darstellt.
Anders ist der Fall gelagert beim Zweiten Weltkrieg oder dem aktuellen Krieg in der Ukraine. Hier gibt es eine Partei die eindeutig als Invasionspartei zu erkennen ist. Das führt auch zu einer ganz anderen Fragestellung, die bei Remarque gar kein Rolle spielen kann: Ist ein Verteidigungskrieg ein gerechter Krieg oder muss Pazifismus generell bis zur Selbstaufgabe gehen?
Erich Maria Remarque hat diese Frage nie gestellt, denn in seinem Werk geht es um einen Krieg, bei welchem es keine Rolle spielt, wer das moralische Recht auf seiner Seite hat bzw. wer der Aggressor ist. Man kann ihm das nicht vorwerfen, weil beim Ersten Weltkrieg eben kein eindeutiger Aggressor existiert hat. Die Einsicht eines Teilnehmers des Krieges, in vorderster Linie, wie die Perspektive von Erich Maria Remarque, zielt deshalb, abseits von politischen Interessen, wesentlich darauf ab, die Traumata des Krieges und seine Folgen für die direkten Beteiligten offenzulegen, was gleich schon im Einband des Buches zu lesen ist:
Dieses Buch soll weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein. Es soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam.
– Erich Maria Remarque
Zur „verlorenen Generation“, also den wenigen Überlebenden und Traumatisierten des Ersten Weltkriegs, zählt auch der Sohn des Osnabrücker Buchbinders Peter Franz Remarque, mit deutsch-französischen Eltern (Remarque/Bäumer), welcher mit Notabitur 1917 als Soldat an die Westfront eingezogen wurde: Erich Maria Remarque.
Kaum ein paar Wochen an der Front, wurde er mit Granatsplitter in Beinen und Armen, sowie einem Halsschuss verwundet. Nach über einem Jahr Aufenthalt in Armee-Hospital in Duisburg wurde er, als wären die ersten Verwundungen nicht genug der Strapazen gewesen, im Oktober 1918 wieder an die Front geschickt. Das war ein Monat vor dem Kriegsende. Nicht nur diese verstörenden Ereignisse und Erlebnisse sind Teil seines semibiografischen Anti-Kriegsromans „Im Westen nichts neues“ geworden. In der Ich-Form erzählt, aber mit Kommentaren eines auktorialen Erzählers, tritt der fiktive Protagonist Paul Bäumer, aufgeputscht durch Lehrer, Eltern und die Massen freiwillig (im Gegensatz zu Remarque selbst) in den Kriegsdienst ein und erlebt die Hölle auf Erden.
Die Schilderungen der Erlebnisse sind nicht nur grausam authentisch, sondern sie sind realistisch. Es ist zu vermuten, dass Remarque nicht der Literaturepoche der „Neuen Sachlichkeit“ und des wiederkehrenden „Realismus“ entsprechen wollte, sondern war er Kind seiner Zeit, die allgemein vom Trauma des Ersten Weltkriegs geprägt war. Er schrieb eher frei, unverhüllt und unverklärt einen Bericht des Grauens in Romanform, welcher gedruckt 1929 erschien und 1930 verfilmt wurde. Es mutet sonderbar an, wenn am Vorabend des Zweiten Weltkrieges sowohl ein Anti-Kriegsroman als auch ein Anti-Kriegsfilm erscheinen, welche in erschütternder Weise die Hölle auf Erde schildern. Müsste doch die Ansicht eines Anti-Kriegswerkes und zugleich eines Werkes der Weltliteratur, das Millionen Menschen auf der ganzen Welt zugänglich geworden ist und welches den Krieg allgemein reflektiert, nicht bewirken, dass viele Menschen zu einer pazifistischen Erkenntnis gelangen?
Nur 20 Jahre später, also etwa eine Generation nach der „verlorenen Generation“, war der sinnlose Tod der Soldaten des Ersten Weltkriegs bereits verdrängt worden und es kam erneut zum Schlachten.
Die historische Erkenntnis vom Revanchismus zwischen Deutschland und Frankreich, der zu so vielen Kriegen geführt hat, muss heute und für die Zukunft fortwährend alle Verantwortungsträger lehren, dass man Konflikte nicht mehr so befriedet, dass der Verlierer gedemütigt wird. Man nennt diesen Ansatz in der Pädagogik und Mediation No Blame Approach . So ist vorhersehbar, dass wenn es einmal zu einem Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine kommt, keine der beiden Seiten über das Maß hinaus zurechtgestutzt werden darf, denn es würde den wahren Konflikt nur einfrieren und nach einiger Zeit steht der Geschlagene wieder auf und es kommt erneut zum Schlachten.
Es war zwar eine schmerzvolle Aufteilung der Lasten für Frankreich und Deutschland, jedoch war sie verbunden mit der Einsicht, dass es keine Gewinne zu verteilen gab. Diese Einsichten waren aber nur möglich, nachdem die Waffen bereits ruhten.
Ein Hoffnungsvoller Blick
An dieser Stelle will ich deutlich sagen, dass die Ukraine und Russland ohne Vorbedingungen gemeinsam die Waffen diszipliniert ruhen lassen müssen, bevor überhaupt Verhandlungspositionen ausgetauscht werden können. Es ist nicht möglich im Kampfmodus rationale Entscheidungen zu treffen oder gar Vertrauenssignale zu senden oder zu empfangen. Derzeit sind aber Aggressor und Verteidiger so sehr mit dem taktischen Denken beschäftigt, dass jemand auf die Idee käme von selbst aufzuhören. Es kann nur funktionieren, wenn beide zeitgleich aufhören.
Die beiderseitige Waffenruhe ist deshalb das allererste und bedingungslose Ziel.
Was solche Verhandlungen bringen bleibt ungewiss. Eine kooperative Wirtschafts- und Außenpolitik sowie nachhaltige Programme zur Versöhnung von Staaten hat sich als wirkungsvoll und zukunftsträchtig erwiesen im Fall von Deutschland und Frankreich. Die Lösung für den ehernen Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich, gereicht zum Vorbild für alle verfeindeten Lager der Welt. Auf dem Fundament dieser Kooperationsbereitschaft gründet die Europäische Union.
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OLIVER | OUROBOROS – Autor
Schon seit der Grundschule habe ich meine Liebe zum Schreiben entdeckt, damals auf einer mechanischen Schreibmaschine von Triumph.
So richtig viel habe ich im Studium angefangen zu schreiben. Da mein Film- und Serienkonsum schon überhand nahm, habe ich mich entschlossen, den Schreibdrang dort hin zu lenken, damit ich auch etwas produziere. So reflektiere ich Filme und Serien häufig unter Zuhilfenahme verschiedener Geisteswissenschaften und kombiniere sie mit moralischen Fragestellungen oder psychologisch-pädagogischen Aspekten, welche ich aus meinen Beruf als Pädagoge mitbringe.
Die Vielzahl meiner kreativen Hobbys bringt mich um den Verstand, gehören dazu das Produzieren und Komponieren von Musik, Wandern, Radfahren, Fotografieren, Tanzen.
Webseite: oliversiegemund.wixsite.com
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Ein Kommentar
Vorab: Schön, dass du hier mit Gina kollaborierst :).
Ansonsten: Schön herausgearbeitet! Chapeau!